Und nun mal was Ulmisches - "Stuttgart 21" in Ulm
Der Leserbrief kam heute (dank dem Streikende) endlich in der SWP:
Eine andere Republik? Ja bitte!
Der SÜDWESTPRESSE gebührt ein großer Dank für die ungekürzte und ungeschminkte Veröffentlichung der Aussagen der Herren Rivoir und Dr. Kulitz. Diese sind sehr bezeichnend für deren Demokratieverständnis. Nochmals zusammengefasst: wenn die IHK unter Verletzung jeglicher Zurückhaltung (Stichwort „Bollwerk“) zu einem umstrittenen Projekt wie „S21“ Stellung nimmt und mit Zwangsbeiträgen Werbung dafür macht, dann ist es nach deren Ansicht nach völlig in Ordnung. Wenn der BUND das Projekt kritisiert, dann ist dessen Gemeinnützigkeit in Gefahr. Überhaupt gefährdet der Abbruch von „S21“ laut Rivoir/Kulitz den Fortbestand der Demokratie oder ebnet zumindest den Weg in eine „andere Republik“.
Meinungsäußerungen sind also nur dann zulässig, wenn sie „richtig“ sind. Die Entscheidung darüber, was richtig ist, maßen sich die Herrschaften gleich mit an. Es gibt denen zufolge eine Ulmer Einheitsfront und wer eine abweichende Meinung hat, gefährdet die Demokratie. Unschöne Assoziationen mit der Vergangenheit sind natürlich rein zufällig.
Die Krone wird freilich durch den Antrag aufgesetzt, den städtischen Zuschuss für die Umweltaktivitäten des Ulmer BUND zu streichen. Freilich hat dessen Engagement für den Naturschutz nichts mit der S21-Diskussion zu tun, aber die Einheitsfront duldet keinen Widerspruch. Um Bäume darf sich in Ulm (vor allem ehrenamtlich) jeder kümmern, aber eine eigene Meinung steht demnach nur wenigen zu. Sonst droht die Züchtigung, verbales Teeren und Federn.
Nun ließe sich einwenden, Diskussionen seien schön und gut, aber man müsse an gefällten Entscheidungen festhalten. Dieser Einwand zieht aus zweierlei Gründen nicht: erstens wurde das Mammutprojekt auf Grundlage geschönter Zahlen und nunmehr überholter Leistungsdaten beschlossen. Zweitens zeigt Dr. Kulitz ganz deutlich, wie wenig einmal getroffene Entscheidungen für ihn zählen: egal zu welchem Anlass schalt es aus dem Haus der Wirtschaft „Umweltzone abschaffen“. Respekt vor der Entscheidung? Fehlanzeige! Aber wie Orwell so treffend schrieb, gibt es Gleiche und noch gleichere.
À propos Orwell: der Abgeordnete Rivoir ist „erschüttert“ über die „wüsten Drohungen“ aus dem Internet. Aus Interesse, was einem im virtuellen Raum alles so angedroht werden kann, haben wir im Netz gesucht. Und siehe da: eine Drohung mit dem Aufruf, ihn nicht zu wählen. Dass es so etwas gibt! Muss schon erschütternd sein, dass eine Demokratie die Wiederwahl nicht sichert...
Wenn dies die Demokratievorstellung der S21-Einheitsfront ist, wollen wir tatsächlich eine andere Republik. Und uns scheint, da sind wir nicht der einzigen.
Michael Joukov & Annette Weinreich.
